AboMacrons Corona-StrategieDarf der Präsident sagen, er wolle Impfgegnern «auf den Sack gehen»?
Frankreich debattiert einen ganzen Tag lang über die vulgäre Wortwahl von Emmanuel Macron. Die Frage, wie man die Zahl von mehr als 300’000 Infizierten pro Tag senkt, tritt dabei fast in den Hintergrund.

Am Mittwochabend war immerhin eines sicher: Noch nie hatte man im französischen Fernsehen so oft das Wort «emmerder» gehört. Wer vorsichtig sein will, übersetzt «emmerder» mit «auf die Nerven gehen» oder «drangsalieren». Wer die Vulgarität des Wortes abbilden will, sollte lieber die Übersetzung «auf den Sack gehen» wählen. Der Wortstamm des Verbs kommt jedenfalls von «merde», also Scheisse.
Weil das auch im französischen Fernsehen heftig klingt, sagten es die Moderatorinnen und Moderatoren am Anfang noch mit einer begleitenden Entschuldigung. Manche setzten mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, um deutlich zu machen, dass sie sich so normalerweise nicht ausdrücken. Es nicht sagen konnten sie nicht – denn es war ein Zitat des obersten Mannes im Staat. Macron wolle Nicht-Geimpften «bis zum Ende auf die Nerven gehen», das hatte er in einem Interview des «Parisien» gesagt.
Die Opposition schäumte vor Empörung
Wie explosiv diese Wortwahl war, zeigte sich bereits in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Das Präsidentenzitat platzte um 21 Uhr 30 in die Debatte in der Nationalversammlung, in der die Abgeordneten darüber diskutierten, ob aus dem aktuell geltenden Gesundheitspass ein Impfpass werden soll. Ob also die aktuell geltenden 3-G-Regeln durch strengere 2-G-Regeln ersetzt werden sollen. An inhaltliche Debatten war nach Macrons emmerder-Auftritt nicht mehr zu denken. Die Opposition schäumte vor Empörung – ohne Ausnahme, von links über grün bis rechts bis ganz rechts.
Auch 24 Stunden später war noch keine Ruhe eingekehrt. Laut Regierung hatten Macrons Worte einen positiven Effekt. Gesundheitsminister Olivier Véran sagte am Mittwochabend in der Nationalversammlung, 66’000 Menschen hätten innerhalb des vergangenen Tages eine Erstimpfung erhalten. So viele wie seit dem 1. Oktober nicht mehr. Er glaube «nicht an den Zufall», so Véran, die Worte des Präsidenten hätten Wirkung gezeigt.
In der Opposition glaubt derweil niemand an einen Motivationseffekt. Und auch nicht daran, dass es Macrons Ziel gewesen wäre, Menschen zum Impfen zu bewegen. Der kalkulierte Ausbruch des Präsidenten und die bewusst derbe Wortwahl (jedes Macron-Interview wird vor Veröffentlichung im Élysée mehrfach gegengelesen) werden durch die Bank als Versuch gewertet, Nicht-Geimpfte und Geimpfte gegeneinander in Stellung zu bringen.
In drei Monaten ist in Frankreich Präsidentschaftswahl
Eine Analyse, die in der Macron-Partei La République en Marche nicht abgestritten wird. Verschiedene Abgeordnete verteidigten den Präsidenten mit der Formulierung, er sage «laut, was alle leise denken». 90 Prozent der über 12-Jährigen sind in Frankreich geimpft, Macron spreche für diese Mehrheit.
Populäre Meinungen zu vertreten, lohnt sich zur Zeit ganz besonders: In drei Monaten ist in Frankreich Präsidentschaftswahl. Von Impfgegnern dürfte Macron ohnehin keine Stimmen bekommen. Frankreichs Präsident ordnete im Sommer die Einführung des Gesundheitspasses an, der den Zugang zum öffentlichen Leben für Ungeimpfte stark einschränkt.
«Wenn meine Freiheit die der anderen bedroht, bin ich ein verantwortungsloser Mensch. Ein Verantwortungsloser ist kein Bürger mehr.»
Für Unverständnis und Wut sorgte nun jedoch weniger die Entscheidung, Druck auf Nicht-Geimpfte auszuüben, sondern Macrons Strategie der offenen Spaltung. So sprach der Präsident davon, er habe «Lust dazu», den Nicht-Geimpften «auf die Nerven zu gehen». Eine Formulierung, in der viele Oppositionspolitiker Selbstherrlichkeit entdeckten. Schliesslich waren sie als Abgeordnete gerade dabei, über weitere Einschränkungen für Nicht-Geimpfte zu debattieren. Indem der Präsident es zu seiner persönlichen Freude erklärte Nicht-Geimpfte «zu nerven», klang auch an, dass es lediglich seiner Entschlossenheit bedürfe, nicht einer Entscheidung des Parlaments.
Macrons Verbündete loben den Präsidenten gerne und oft dafür, dass er «kein Blatt vor den Mund nehme» und Konflikte nicht scheue. Eine Beobachtung, die seine internationalen Partner spätestens bestätigen können, seit Macron die Nato 2019 als «hirntot» bezeichnete. Doch gerade erst im Dezember hatte Macron versichert, die Zeit der markigen Sprüche sei vorbei. In einem Fernsehinterview sagte er, er habe gelernt, «dass man Menschen nicht verletzen muss, um Dinge zu bewegen». Und in seiner im Fernsehen übertragenen Neujahrsansprache sagte er: «Ich wünsche mir für uns alle, dass wir einander in unseren Differenzen respektieren.» Und: «Lassen Sie uns geeint, wohlwollend, solidarisch bleiben.»
«Ein Verantwortungsloser ist kein Bürger mehr»
Schon wenige Tage später war von dieser neuen Sanftheit nichts mehr übrig. Macron verwendete im Parisien-Interview nicht nur das Aufreger-Wort «emmerder», er sagte auch, Impfverweigerer «untergraben die Festigkeit der Nation». Und: «Wenn meine Freiheit die der anderen bedroht, bin ich ein verantwortungsloser Mensch. Ein Verantwortungsloser ist kein Bürger mehr.»
Man kann diese Bemerkung als einen Kommentar auf die teils gewalttätigen Proteste von radikalen Impfgegnern sehen, die in den vergangenen Monaten Impfzentren zerstört, Journalisten und medizinisches Personal bedroht haben. Die Proteste begannen mit Einführung des Gesundheitspasses, ebbten jedoch recht schnell wieder ab. Zudem ist nicht jeder, der noch nicht geimpft ist, ein Impfverweigerer. Zahlen belegen, dass gerade die Zahl der nicht-geimpften Senioren dort besonders hoch ist, wo die medizinische Versorgung in entlegenen ländlichen Gebieten besonders schlecht ist.

Inwiefern Macrons Ausbruch jenseits der politischen Aufregung einen Nutzen hatte, ist unklar. In Frankreich explodiert die Zahl der Covid-Infizierten in bislang nicht bekanntem Masse. Am Mittwoch wurde ein neuer Rekordwert gezählt: Mehr als 300’000 Infizierte an einem Tag. Eine höhere Impfquote würde die Krankenhäuser entlasten, da auch die französischen Daten zeigen, dass eine Impfung vor schweren Verläufen schützt.
Ein Fakt, den auch innerhalb der Opposition niemand bestreitet. Am Donnerstag um fünf Uhr in der Früh wurde in der Nationalversammlung der Gesetzestext angenommen, der die Einführung eines Impfpasses vorsieht. Durch den Streit um Macrons Interview war die Debatte aufgehalten worden. Nun kommt der Text in den Senat. Der Impfpass würde den Gesundheitspass ablösen. Um Restaurants, Cafés oder öffentliche Orte zu besuchen oder den Fernverkehr zu nutzen, würde es dann nicht mehr ausreichen, geimpft, genesen oder getestet zu sein. Es würden nur noch Impf- oder Genesungsnachweise gelten.
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